Dienstag, 16. Juni 2009

Garantiert zeichnen lernen!



Die amerikanische Zeichenlehrerin Betty Edwards hat bereits 1979 mit der Veröffentlichung ihres bemerkenswerten Buches auf einen Widerstreit zweier grundsätzlich unterschiedlicher Wahrnehmungsweisen hingewiesen, der nicht nur der modernen Hirnforschung längst bekannt war. In unserer täglichen Unterrichtspraxis bestätigt sich die ganz gegensätzliche Art und Weise der Aneignung von Wirklichkeit immer aufs Neue. Der Zwang zur Verschriftlichung und zur Versachlichung des Kunstunterrichts widerspricht seiner eigentlichen Aufgabe. Und dient wohl vor allem der Nachvollziehbarkeit der Notengebung für Nichtkünstler. Das Gleichnis vom ungläubigen Thomas drängt sich als Vergleich schon mal auf...



«Die wichtigste Erkenntnis, die sich herauszukristallisieren scheint, ist, dass es anscheinend zwei Denkweisen gibt, die verbale und die nonverbale —, die weitgehend getrennt voneinander von der linken und der rechten Hemisphäre repräsentiert werden. Unser Bildungssystem wie auch unsere Wissenschaft allgemein neigt dazu, die nonverbale Form der Intelligenz zu vernachlässigen. Das hat zur Folge, dass die rechte Gehirnhälfte seitens unserer Gesellschaft diskriminiert wird.»
Roger W. Sperry, "Lateral Specializaüon of Cerebral Functions in the Surgically Separated Hemispheres".

"Bei der Beschäftigung mit den Untersuchungen Sperrys kam mir unversehens die Idee, daß das zeichnerische Können eines Menschen in erster Linie von einer anderen Fähigkeit abhängen muß - der Fähigkeit nämlich, von der «normalen» Informationsverarbeitung zu einer ganz anderen Form des Umgehens mit optischen Wahrnehmungen überzuwechseln - von einer sprachlichen, analytischen Verarbeitung (in meinem Buch «Links-Modus», «L-Modus» genannt) zu einer räumlichen, ganzheitlichen Verarbeitung (die ich als «Rechts-Modus», «R-Modus» bezeichne)." (Betty Edwards)

"Bereits seit etwa hundertfünfzig Jahren ist der Wissenschaft bekannt, daß das Sprachzentrum und alle mit ihm verbundenen Fähigkeiten und Funktionen bei den allermeisten Menschen - bei etwa 98 Prozent der Rechtshänder und etwa zwei Dritteln der Linkshänder - in der linken Hemisphäre liegt. Diese Erkenntnis hatte man hauptsächlich aus der Beobachtung der Auswirkungen von Hirnverletzungen gewonnen. Es fiel zum Beispiel auf, daß Verletzungen der linken Hemisphäre weit häufiger den Verlust der Sprechfähigkeit zur Folge hatten als eine ebenso schwerwiegende Schädigung der rechten Hemisphäre.

Da Sprache und Sprechen so eng mit dem Denken, dem Verstand und den höheren geistigen Funktionen, durch die sich Mensehen grundsätzlich von den anderen Geschöpfen unseres Planeten unterscheiden, verbunden sind, hielten die Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts die linke Hemisphäre für die dominante und gaben ihr die Zusatzbezeichnung major; die rechte hingegen hielten sie für untergeordnet und klassifizierten sie als minor. Nach der bis in die jüngste Zeit allgemein vorherrschenden Ansicht war die rechte Gehirnhälfte weniger entwickelt und ausgebildet als die linke, ein stummer Zwilling mit geringwertigeren Fähigkeiten, der von der linken Hemisphäre gelenkt und «mitgeschleppt» wurde.

Im herkömmlichen Schulunterricht mit seinen vor allem auf den sicheren Umgang mit Wörtern und Zahlen ausgerichteten Lernsequenzen - so, wie Sie und ich ihn hinter uns gebracht haben - fehlen alle Voraussetzungen, um den Gebrauch der rechten^Hemisphäre zu fördern. Sie ist nun einmal in sprachlicher Hinsicht nicht gerade leicht zu überprüfen und unter Kontrolle zu bringen. Mit ihr läßt sich nicht argumentieren. Sie ist nicht dazu zu bewegen, logische Behauptungen aufzustellen. Sie ist, bildlich gesprochen, ein «Linkshänder» mit sämtlichen Nebenbedeutungen dieser Bezeichnung. Ferner hat sie nicht viel Sinn für Systematik. Sie fängt einfach irgendwo an oder mit allem zugleich. Zudem hat die rechte Hemisphäre kein Zeitgefühl und scheint nicht zu begreifen, was «Zeitverschwendung» ist (die gute, vernünftige linke Hemisphäre weiß das hingegen sehr genau). Sie ist auch nicht gut im Kategorisieren und Benennen. Sie scheint die Dinge einfach so zu nehmen, wie und was sie gerade sind, in ihrer ganzen faszinierenden Komplexität. Auch im Analysieren und Abstrahieren deutlich erkennbarer Merkmale ist sie völlig untalentiert.

Obwohl sich die Erzieher heute zunehmend der Bedeutung des intuitiven und schöpferischen Denkens bewußt zu werden beginnen, sind Unterricht und Lehrpläne weiterhin im wesentlichen auf die Ausbildung der linkshemisphärischen Fähigkeiten zugeschnitten. Der Unterricht ist in aufeinanderfolgende Lernschritte strukturiert, die der Schüler nachvollziehen muß, um schließlich zum erwünschten Lernziel zu gelangen. Das tägliche Einmaleins der Schüler, die Voraussetzung des Lernerfolgs, sind Wort und Zahl — Lesen, Schreiben, Rechnen. Stundenpläne sind einzuhalten. Die Schüler sitzen in Reih und Glied. Im Abrufen der gleichen — erwarteten — Antworten wird ihr Denken in einander ähnliche begrenzte Bahnen gelenkt. Die Lehrer verteilen Noten.

Und jeder spürt, daß an der ganzen Sache etwas faul ist. Die rechte Hirn-Hemisphäre — die des Träumers, des Künstlers, des Schöpfers und Erfinders —: In unserem Unterrichtssystem ist sie verloren; sie durchläuft diesen Unterricht weitgehend ununterrichtet. Wir mögen im Lehrplan ein paar Stunden Kunstunterricht, ein paar Stunden «Werken», ein wenig Musikunterricht und vielleicht etwas, das «kreatives Schreiben» genannt wird, aufgeführt finden; doch ist es höchst unwahrscheinlich, daß wir irgendwo auf Unterrichtspläne stoßen, die das Ziel haben, die Phantasie, die Fähigkeit, sich etwas bildlich vorzustellen, das Gefühl für räumliche Strukturen, das Empfindungs- und Wahrnehmungsvermögen im allgemeinen, kreatives, intuitives, erfinderisches Denken und Handeln zu fördern. Dennoch legen die Erzieher Wert auf solche Fähigkeiten. Vermutlich glauben sie, daß Schüler und Studenten durch die Ausbildung ihrer verbalen, analytischen Fähigkeiten ganz von selbst auch ihre Phantasie, ihre intuitiven Kräfte und ihre Fähigkeit, die Welt bewußt und umfassend wahrzunehmen, entfalten." (Betty Edwards)

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Betty Edwards ist ein guter Anfang. Wenigstens distanziert Sie sich endlich vom "Schwachsinn" das zeichnen im Kopf stattfindet. Zeichnen ist (wenn wir vom Wirklichkeitsnahen zeichnen sprechen) immer ein Kopieren. Und was dieses Gebiet betrifft ist Sie wirklich gut. Allerdings, und jetzt kommt der Haken, ist Sie keine Zeichnerin. Die meist gestellte Frage in meinen Kursen, (und ich bin seit ca. 12 Jahren Experte im "Zeichnen lernen"), ist doch folgende. Wie komme ich vom Motiv zur Zeichnung. Welche Linien und Schatten gilt es zu kopieren. Und wie viel davon lässt man weg, respektive was genau muss ich der Lesbarkeit der Zeichnung wegen den genau zeichnen? Das ist es was meine Schüler beschäftigt und nicht welche Hirnregion gerade das sagen hat. Um diese Fragen befriedigend beantworten zu können, muss man Erfahrung haben und diese dem Anfänger anhand treffender Analogien (ihm fehlt ja die Erfahrung) plausibel erklären können. Und genau diese essentiellen Dinge werden bei Betty Edwards weggelassen. Kurz gesagt, mit "Garantiert zeichnen" lernen ist bei Betty Edwards nur das Kopieren gemeint. Mit richtig freiem, persönlich geprägtem zeichnen hat das nicht das Geringste zu tun!!!

Siehe www.zeichnen-lernen.ch

Freundliche Grüsse
David Werthmüller, Experte für freies zeichnen.